Der Bundesgerichtshof (BGH) hat am 20. November 2024 ein Urteil zur Strafzumessung bei versuchtem Totschlag gefällt und die Entscheidung des Landgerichts Kassel vom 11. März 2024 aufgehoben. Der Fall betrifft die Frage der Anwendbarkeit des Täter-Opfer-Ausgleichs als Strafmilderungsgrund und hat Bedeutung für die Auslegung des § 46a Nr. 1 StGB.
Der Angeklagte, der an einer schweren Alkohol- und Drogenabhängigkeit litt, schoss im Juli 2023 nach einem Streit in der Wohnung auf einen Nachbarn, der ihn zur Ruhe ermahnt hatte. Der Schuss traf den Nachbarn in die Schulter, verletzte ihn aber glücklicherweise nur oberflächlich. Das Landgericht Kassel verurteilte den Angeklagten wegen versuchten Totschlages in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und unerlaubtem Waffenbesitz.
Im Zentrum des Revisionsverfahrens stand die Frage, ob das Landgericht die Voraussetzungen eines Täter-Opfer-Ausgleichs im Sinne des § 46a Nr. 1 StGB korrekt angewendet hat. Das Landgericht bejahte dies, da der Angeklagte dem Opfer einen Entschuldigungsbrief geschrieben und die Adhäsionsforderungen des Opfers anerkannt hatte. Die Staatsanwaltschaft rügte mit ihrer Revision, dass diese Maßnahmen nicht ausreichten, um einen Täter-Opfer-Ausgleich zu begründen.
Der BGH gab der Revision der Staatsanwaltschaft statt. Er stellte fest, dass das Landgericht die Anforderungen an einen Täter-Opfer-Ausgleich verkannt hatte. Nach Ansicht des BGH erfordert § 46a Nr. 1 StGB nicht nur ein formales Anerkenntnis der Schuld, sondern auch "hinreichende Anstrengungen" des Täters, die Folgen der Tat wiedergutzumachen. Diese müssen nach einem objektivierenden Maßstab bewertet werden und vom Opfer als friedensstiftender Ausgleich akzeptiert werden. Im vorliegenden Fall fehlten sowohl die hinreichenden Anstrengungen des Täters als auch die Feststellungen zur Akzeptanz durch das Opfer. Das bloße Anerkenntnis der Adhäsionsforderung am letzten Verhandlungstag, ohne jegliche weitere Leistung oder Kommunikation mit dem Opfer, reichte nach Ansicht des BGH nicht aus. Der BGH hob daher das Urteil des Landgerichts auf und verwies die Sache zur Neuverhandlung an eine andere Strafkammer zurück.
Das Urteil des BGH verdeutlicht die Anforderungen an einen Täter-Opfer-Ausgleich nach § 46a Nr. 1 StGB. Es unterstreicht, dass nicht allein formale Akte, sondern tatsächliche Bemühungen um Wiedergutmachung und ein kommunikativer Prozess zwischen Täter und Opfer erforderlich sind, um eine Strafmilderung zu rechtfertigen. Die Entscheidung trägt zur Klarheit und konsistenten Anwendung dieses wichtigen Strafmilderungsgrundes bei.
Der BGH hat mit seiner Entscheidung die Bedeutung des kommunikativen Prozesses und der tatsächlichen Wiedergutmachungsbemühungen beim Täter-Opfer-Ausgleich hervorgehoben. Es bleibt abzuwarten, wie die neue Strafkammer den Fall beurteilen wird und ob weitere Aspekte des Täter-Opfer-Ausgleichs in der neuen Verhandlung eine Rolle spielen werden.
Quelle: Bundesgerichtshof, Urteil vom 20. November 2024 - 2 StR 371/24